Landesverband Rheinland-Pfalz
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Nach langem Vorlauf und auf der Grundlage der erforderlichen Änderung des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) wurde am 5. Juli 2024 die Novelle der Straßenverkehrsordnung (StVO) final im Bundesrat beschlossen.
Die wichtigste Änderung findet sich im, wegen seiner Kompliziertheit, berüchtigten § 45 der StVO. Eine zweite Änderung scheint nur eine Klarstellung einer bestehenden Situation zu sein, wirft aber auf große Teile der bestehenden Radfahrinfrastruktur ein neues Licht – und stellt sie im Grunde in Frage.
Der Paragraph 45 trägt die harmlos daherkommende Überschrift „Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen“. „Verkehrszeichen“ sind die Schilder und anderen Kennzeichen, die kundtun, was man spezifisch im Verkehr machen soll bzw. was man nicht machen darf. Zum Beispiel kann mit der Aufstellung eines entsprechenden Schildes eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf Tempo 30 ausgewiesen werden.
Der § 45 regelt in dreieinhalb Seiten enggedrucktem Text mit 21 Absätzen und zahlreichen Unternummerierungen, unter welchen Umständen die für eine Straße zuständige Straßenverkehrsbehörde Geschwindigkeitsbeschränkungen oder andere Regelungen anordnen darf. Nach einer Aufzählung von Umständen, unter denen sie regeln darf – wobei die genaue Beschreibung der Erlaubnis diese bereits eng begrenzt – folgt in Absatz 9 nochmals die Bekräftigung, dass der Straßenverkehrsbehörde vieles aber doch nicht gestattet ist. Die schwer deutbare Formulierung lautet konkret:
Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs dürfen nur angeordnet werden, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt.
Das „allgemeine Risiko“ muss „erheblich überstiegen“ sein – da stecken offensichtlich viele Interpretationsspielräume drin. Die Auflage wird umgekehrt nochmals wieder für einige Situationen als nicht anwendbar erklärt.
Das Geflecht von Befugnissen und Einschränkungen der Befugnisse erweist sich immer wieder als schwierig in der Anwendung. Kein Wunder, dass es Stoff für unzählige Gerichtsverfahren liefert. Vielleicht das für Radfahrbelange interessanteste und daher immer wieder angeführte Urteil, dessen Urteilsgründe die ganze Komplexität der Regelungen aufzeigt, ist das des Bundesverwaltungsgerichts vom 18.11.2010. Hier wurde in einer bestimmten Situation die Anordnung eines verpflichtenden Radwegs als unzulässig erklärt (https://www.bverwg.de/181110U3C42.09.0 )
Mit der Änderung der StVO wird nun den legitimen Anlässen für Verkehrseinschränkungen, zum Beispiel für Tempobeschränkungen, in Absatz 1 des Paragraphen ein weiterer als Nummer 7 hinzugefügt. Die Straßenverkehrsbehörde darf künftig eine einschlägige Maßnahme ergreifen
zur Verbesserung des Schutzes der Umwelt, darunter des Klimaschutzes, zum Schutz der Gesundheit oder zur Unterstützung der geordneten städtebaulichen Entwicklung, sofern die Leichtigkeit des Verkehrs berücksichtigt ist und die Sicherheit des Verkehrs nicht beeinträchtigt wird, hinsichtlich
a) der Einrichtung von Sonderfahrstreifen und bevorrechtigenden Lichtzeichenregelungen für Linienbusse und
b) der Bereitstellung angemessener Flächen für den fließenden und ruhenden Fahrradverkehr sowie für den Fußverkehr.“
Als Zweck einer Regelung, zum Beispiel einer Tempobeschränkung, muss jetzt nicht mehr wie bisher die Vermeidung einer erkennbaren unmittelbaren Gefahr angeführt werden. Der Klimaschutz, der Gesundheitsschutz und eine zukunftsfähige, menschenfreundliche Stadtgestaltung werden auch als legitime Anlässe für eine verkehrliche Anordnung anerkannt.
Allerdings wird die Tragkraft dieser Gesichtspunkte gleich wieder auf bestimmte Situationen begrenzt. Sie können nur als Anlässe für eine neue Sichtweise auf den Straßenraum fungieren, nicht direkt etwa für ein allgemeines innerörtliches Tempolimit auf 30 km/h, wie es zum Beispiel vom VCD seit vielen Jahren gefordert wird.
Andererseits: Wenn Rad- und Fußverkehr sich in angemessenen Flächen im Straßenraum abspielen können sollen, kann das nur bei entsprechender Verfügbarkeit von Platz über abgetrennte breite Wege realisiert werden. Falls dies nicht möglich ist, muss wohl doch der Autoverkehr weniger massiv sein, weniger Gefahr darstellen – und eben doch langsamer werden.
Es wird in den nächsten Jahren an diesem Punkt eine spannende Auseinandersetzung über die tatsächliche Tragweite der neuen Bestimmmung geben.
Wie als dürfte die Regelungsvorgabe nur ja nicht einfach erscheinen, wird in der neuen Texteinfügung nochmals die Grundmelodie der StVO aufgerufen, dass nicht nur die Sicherheit des Verkehrs gewahrt werden muss, sondern auch dessen Leichtigkeit zu berücksichtigen sei.
Die „Leichtigkeit des Verkehrs“ ist ein merkwürdiger Code. Schlägt man im historischen Grimmsche Wörterbuch nach, wird als Kontextbeispiel für „Leichtigkeit“ zuvorderst „die Leichtigkeit einer Feder“ genannt. Klingt in dem Begriff der StVO die Idee an, dass man im Verkehr mühelos wie eine Feder schweben bzw. vorankommen soll? War bei der Prägung des Begriff vielleicht assoziiert, dass der Autoverkehr nicht mehr wie Kutschen früherer Zeiten mühsam über die Wege holpern sollen?
Jedensfall ist die Wendung von der anzustrebenden Leichtigkeit des Verkehrs althergebracht. Die heutige Straßenverkehrsordnung führt im Namen und in zahlreichen Bestimmungen immer noch die Reichs-Straßenverkehrs-Ordnung fort, die 1934 der Reichsverkehrsminister erließ, mit dem explizit im Nazi-Vorwort benannten Ziel der Förderung des Kraftfahrzeugs. In dieser Verordnung findet sich in § 34, die zuständige Behörde könne „die Benutzung von Straßen aus Gründen der Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs beschränken“.
In der alten Verordnung scheint es eindeutig zu sein und noch in der aktuellen hört es sich so an, als sei mit Verkehr nur der Autoverkehr gemeint und als sei die Leichtigkeit des Verkehrs etwas, in dessen Genuss der Kraftfahrzeugverkehr kommen soll. Als „Verkehrsteilnehmer“ werden in der StVO hingegen auch die Menschen bezeichnet, die nichtmotorisiert unterwegs sind:
Wer ein Fahrzeug führt, muss sich gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen, insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft, so verhalten, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. (§ 3 Nr. 2a StVO Stand 2023)
Traditionell wirkt es – und das entspricht ohne Zweifel der hergebrachten Praxis – als gäbe es zwei Klassen von Verkehrsteilnehmern. Bei den Regelungen des Verkehrs muss im Interesse derer, die mit dem Auto unterwegs sind, für dessen „Leichtigkeit“ gesorgt werden, bei dem Verkehr der anderen eher nicht.
Zur Zeit wandelt sich die Formel von der „Leichtigkeit des Verkehrs“ mehr und mehr in die Rede von der „Flüssigkeit des Verkehrs“. Diese Ersetzung findet sich schon in der Verwaltungsvorschrift zur StVO. Damit werden allerdings die zwei Klassen der Verkehrsteilnahme eher nochmal bestätigt, da „Fließen“ sich mit „Rollen“ und damit Fahrzeugverkehr assoziiert und privilegiert ist.
Die grundsätzliche Bevorzugung der Menschen, die mit dem Auto unterwegs sind, bei den Regelungen des Verkehrs ist in vieler Hinsicht nicht akzeptabel. Auch die anderen wollen zügig zum Ziel kommen. Sie müssen in ihrem Bestreben ohne spezifisch sie benachteiligende Beschränkungen unterstützt werden. Das Motiv der grundsätzlichen Förderung des Kraftfahrzeugverkehrs der 1934er Reichs-Straßenverkehrs-Ordnung darf spätestens unter den auch verfassungsrechtlich gebotenen Klimaschutzvorgaben wie auch unter Gleichberechtigungsgesichtspunkten kein tragendes Motiv gegenüber den Interessen von Zufußgehenden und Radfahrenden mehr bilden.
Tatsächlich wird nunmehr im Begründungstext der Bundesratsänderung zu § 45 Absatz 9 Satz 4 Nummer 6 auch nebenbei in anderem Kontext festgestellt, dass alle am Verkehr Teilnehmenden den Anspruch auf „Leichtigkeit“ teilen:
In Anlehnung an eine Empfehlung der AG wird betont, dass die Leichtigkeit aller Verkehrsarten mit den zur Verfügung stehenden Mitteln zu erhalten ist und die Verkehrssicherheit aller Verkehrsteilnehmenden der Flüssigkeit des Fahrverkehrs vorgeht. Dabei ist die besondere Schutzbedürftigkeit der nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmenden und der Menschen mit Behinderung besonders zu berücksichtigen. (Bundesrat, Drucksache 321/24, S.4 )
Hieraus die Konsequenzen für die Gestaltung und Regelung des Verkehrs zu ziehen, bedeutet tatsächlich eine grundlegende neue, nahezu revolutionäre Sicht, welche die im Straßenwesen tätigen Behörden einnehmen müss(t)en.
Die Zufußgehenden dürfen nicht blockiert werden, nur damit der Autoverkehr gut fließen kann. Radverkehr muss auf allen Wegen sowohl sicher als auch zügig möglich sein. Er muss ebenso „flüssig“ vonstatten gehen können wie der Autoverkehr. Seine „Leichtigkeit“, wozu sicherlich auch die Freiheit von Bedrängung gehört, darf nicht dem Geschwindigkeitsinteresse der Autofahrenden geopfert werden.
In der Nummer 7 des Beschlusses zur Änderung der StVO wird – in der nur sehr mühsam verfolgbaren Verweisungsstruktur über mehrere Dokumente hinweg – Bezug genommen auf die als Anlagen der StVO beigefügten Listen, in denen die Verkehrszeichen abgebildet und in ihrer Bedeutung beschrieben sind.
In der Anlage 2 steht im Eintrag mit der Nummer 19 das Zeichen „gemeinsamer Geh- und Radweg“ (Zeichennummer 240), das kreisförmige Schild mit blauem Hintergrund, das, waagrecht geteilt, in der oberen Hälfte ein Fußgängersymbol, in der unteren ein Radfahrsymbol zeigt.
Das Schild kennzeichnet den Weg, an dem es steht, als benutzungspflichtigen Radweg in gleicher Weise wie das blaue Schild, das nur ein Radsymbol zeigt (Zeichen Nr. 237) und das Zeichen 241, das, mit einem senkrechten Strich geteilt, einen neben einem Gehweg geführten Radweg vorgibt.
Die Führung von Rad- und Fußverkehr nicht auf getrennten Spuren nebeneinander, sondern zusammen auf einem gemeinsamen Weg ist ohne Zweifel ein schwieriges Konzept, weil unterschiedliche Geschwindigkeiten und Bewegungsweisen aufeinandertreffen. Wer zu Fuß unterwegs ist, kann leicht einen Schritt zur Seite machen. Wenn in diesem Moment jemand mit dem Rad mit mehrfacher Geschwindigkeit zum Überholen ansetzt, kann es zu gefährlichen Situationen kommen.
Ein klares Modell für die gemeinsame Nutzung eines Weges durch Fuß- und Radverkehr liefert das Schild „Fußverkehr“ mit Zusatzschild „Fahrrad frei“. Hier ist vorgegeben, dass Radfahrende den Vorrang des Fußverkehrs achten müssen, daher sich auf Schrittgeschwindigkeit beschränken müssen und nicht schneller als 10 km/h fahren dürfen.
Diese Kombination beinhaltet ausdrücklich kein Radfahrgebot. Man darf hier fahren, darf aber auch die Autofahrbahn nutzen.
Außerorts, wenn die Kraftfahrzeuge nicht mit 50 km/h, sondern weit schneller unterwegs sind, ist die Nutzung der Fahrbahn mit dem Fahrrad nicht nur unangenehm, sondern oft gefährlich. Aber auch innerorts sieht an vielen Stellen das Straßenkonzept vor, den Radverkehr von der Fahrbahn fernzuhalten, oft auch, wenn es nicht erforderlich ist (und nach der oben angeführten Rechtsprechung des BVerwG eigentlich nicht zulässig ist). Wenn die Wegebreite nicht für eine getrennte Rad- und Fußwegsführung genügt, wird das Zeichen 240 gesetzt.
Eigentlich ist es bei Beachtung von § 1 StVO selbstverständlich, dass auf einem zu schmalen Weg eine verträgliche, rücksichtsvolle Lösung gefunden wird, wie man aneinander vorbei geht und fährt, ohne sich zu gefährden, zu stressen oder zu behindern. Aber mit der Änderung der StVO werden jetzt die Prioritäten eindeutig verteilt:
Dabei ist auf den Fußverkehr Rücksicht zu nehmen. Der Fußverkehr darf weder gefährdet noch behindert werden. Erforderlichenfalls ist die Geschwindigkeit an den Fußverkehr anzupassen. (A.a.O.)
Mit anderen Worten, laut dem dritten Satz sind die Zufußgehenden nicht gehalten, je nach Situation eventuell einen Schritt zur Seite zu gehen, sondern Radfahrende müssen abbremsen. Das ist genau das Modell des Fußwegs mit Radverkehr frei – aber endgültig kein Radweg mehr.
Die Praxis kümmert sich um solche Detailregelungen ohnehin nicht, aber von der Theorie her ist festzustellen, dass eine sehr weit verbreitete Radwegekategorie rechtlich eliminiert wird. Weite Teile dessen, was als Radinfrastruktur bezeichnet wird, sind jetzt Fußwege mit Benutzungspflicht für den Radverkehr.
Das muss jetzt Anlass geben, noch mehr als bisher darauf zu drängen
dass das oben erwähnte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts umgesetzt wird und gar keine Radwegebenutzungspflicht angeordnet wird, wenn sie nicht den rechtlichen Grundsätzen entspricht, sondern der Radverkehr auf der Fahrbahn zugelassen wird,
dass der Straßenraum neu aufgeteilt, so dass Rad- und Fußverkehr je für sich einen normkonformen Platz haben,
dass im Zweifel derAutoverkehr im Tempo begrenzt wird, so dass der Radverkehr auf der Fahrbahn sicher und unbedrängtmit vonstatten gehen kann.
Die Sätze, die in der StVO-Novelle im Grunde zu Recht zum Schutz des Fußverkehrs und zu Lasten des Radverkehrs formuliert werden, sollten analog auch im Hinblick auf Auto- und Radverkehr in Bezug auf die Fahrbahn gelten:
Es ist auf den Radverkehr Rücksicht zu nehmen. Der Radverkehr darf weder gefährdet noch behindert werden. Erforderlichenfalls ist die Geschwindigkeit an den Radverkehr anzupassen.
(RR)
Stand: 18.7.2024