Landesverband Rheinland-Pfalz
Damit Radelnde auf der Fahrbahn sicher unterwegs sind, gelten Regeln für den Mindestabstand beim Überholen durch Kraftfahrzeuge. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass das Gefühl vieler Radfahrender, häufig zu eng überholt zu werden, nicht trügt. In einem gemeinsamen Projekt haben Aktive von VCD, ADFC und der Fahrradbeauftragte der Stadt Bingen am Rhein mehr als tausend Überholvorgänge in und um Bingen dokumentiert.
Das Ergebnis: Im Schnitt überholt jedes fünfte Fahrzeug mit deutlich zu geringem Abstand (innerorts < 1,3 m, außerorts < 1,5 m). Eine detaillierte Auswertung nach einzelnen Straßen deckt klare Schwachstellen auf. Hier besteht Handlungsbedarf, um die Infrastruktur und Verkehrsordnung zugunsten der Radfahrsicherheit zu verbessern.
Die Straßenverkehrsordnung (StVO) regelt, dass beim Überholen von Fahrrädern durch Kraftfahrzeuge innerorts ein Abstand von mindestens 1,5 Metern zu halten ist. Außerorts beträgt der Mindestabstand aufgrund der höheren Geschwindigkeiten sogar zwei Meter (§ 5 Abs. 4 StVO). Der Grund dafür liegt darin, dass Zweiräder zum Beispiel bei Windböen oder Bodenunebenheiten nicht spurstabil sind, die Fahrenden keine schützende Hülle um sich haben und sie daher besonders schutzbedürftig sind.
Wer auf deutschen Straßen Fahrrad fährt, kennt jedoch das Gefühl, zu eng überholt und dadurch in Gefahr gebracht zu werden. Um dieses Gefühl sachlich zu überprüfen und zu dokumentieren, hat eine Initiative von Radfahrenden den Überholabstandsmesser „OpenBikeSensor“ (OBS) entwickelt.
Dabei handelt es sich um ein Gerät, das am Fahrrad montiert wird. Es zeichnet jede Fahrt mit Datum, Uhrzeit, zurückgelegter Strecke und Seitenabständen zu Hindernissen auf. Wenn Überholungen durch Kraftfahrzeuge stattfinden, müssen sie manuell per Knopfdruck bestätigt werden. Die Erfassung der Überholvorgänge erfolgt anonym und datenschutzkonform, die Messergebnisse werden im Online-Portal https://portal.openbikesensor.org/ veröffentlicht.
Ziel ist es, eine wichtige Datengrundlage zu schaffen, um Schwachstellen und Verbesserungspotenziale in der Verkehrsinfrastruktur aufzuzeigen und sich für eine bessere Radfahrinfrastruktur einzusetzen. Schlussendlich soll das Radfahren dadurch sicherer und attraktiver werden.
Der ADFC Kreisverband Mainz-Bingen hat im Jahr 2023 mehrere OpenBikeSensoren angeschafft und stellt sie seinen Mitgliedern leihweise zur Verfügung. Am 13. Oktober 2023 wurde an zwei Fahrrädern in Bingen jeweils ein OBS installiert und im Zeitraum von 16. Oktober bis 30. November 2023 für entsprechende Messungen genutzt.
Während dieser Zeit wurden in Bingen und Umgebung insgesamt 44 Fahrten mit einer Gesamtlänge von 384 Kilometern aufgezeichnet. Teilweise handelte es sich um eigens zu diesem Zweck durchgeführte Messfahrten, teilweise um Alltagsfahrten. Auf den Fahrten wurden innerorts 937 und außerorts 164 Überholvorgänge erfasst.
Einen Überblick zu den befahrenen Strecken und den Ergebnissen gibt folgender Kartenausschnitt:
Von den insgesamt 937 dokumentierten Überholvorgängen innerorts erfolgten 60 Prozent mit dem korrekten Mindestabstand von 1,5 Metern und mehr, in 40 Prozent der Fälle wurde zu eng überholt:
- 18 Prozent der Fahrzeuge überholten mit 1,3 bis 1,5 m nur knapp unterhalb des Mindestabstands.
- In 11 Prozent der Fälle betrug der Überholabstand zwischen 1,1 bis 1,3 m.
- Bei etwas mehr als jeder zehnten Überholung betrug der Abstand zwischen Kfz und Fahrrad weniger als 1,1 m.
- Die engste Überholung mit eindeutiger Gefährdung erfolgte mit lediglich 31 Zentimetern Abstand.
Auf keiner der befahrenen Straßen außerorts gibt es eine Fahrradinfrastruktur in Form eines markierten Radwegs oder Schutzstreifens. Insgesamt sind hier 164 Überholvorgänge erfasst worden. Davon erfolgten lediglich 30 Prozent mit dem korrekten Mindestabstand von zwei Metern und mehr, in 70 Prozent der Fälle wurde zu eng überholt:
- Fast die Hälfte der Fahrzeuge überholte mit 1,5 - 2,0 m Abstand, was innerorts korrekt gewesen wäre, außerorts jedoch nicht ausreicht.
- Bei jeder fünften Überholung lag der Abstand zwischen Kraftfahrzeug und Fahrrad bei weniger als 1,5 Metern.
- Die engste Überholung erfolgte mit lediglich 81 Zentimetern Abstand.
Mit 60 Prozent überwiegen innerorts zwar die regelkonformen Überholvorgänge. Zufriedenstellend ist das Ergebnis jedoch bei Weitem nicht, denn bei jeder zehnten Überholung wird der gebotene Abstand zwischen Kraftfahrzeug und Fahrrad so deutlich unterschritten (< 1,1 m), dass es aufgrund der geringen Spurstabilität von Fahrrädern schnell gefährlich werden kann.
Außerorts hält sich weniger als ein Drittel der Überholenden an den vorgegebenen Mindestabstand. Jedes fünfte Fahrzeug unterschreitet das Abstandsgebot so stark (< 1,5 m), dass bei den zulässigen Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 100 km/h von einer Gefährdung auszugehen ist.
Durchgezogene Mittellinien, die das Befahren der Gegenfahrbahn bei Überholvorgängen untersagen, werden von einem Teil der Kraftfahrzeuge ignoriert, was aus der Perspektive der Radfahrenden den Vorteil hat, dass beim Überholen ausreichend Abstand eingehalten wird, zumindest so lange wie kein Gegenverkehr kommt. Der andere Teil der Kfz-Lenkenden orientiert sich hingegen streng an der durchgezogenen Mittellinie, was zwangsläufig zu sehr engen Überholvorgängen führt.
In vielen Fällen geschieht die Unterschreitung des Abstandsgebots ohne erkennbaren Grund, d.h. es wäre ausreichend Platz, um den Mindestabstand einzuhalten. Das beobachtete Verhalten der Kfz-Fahrenden kann hier bestenfalls als Gedankenlosigkeit interpretiert werden. In den meisten Fällen liegt die Unterschreitung des Mindestabstands daran, dass der Platz bei geringer Fahrbahnbreite aufgrund von Gegenverkehr oder parkenden Fahrzeugen nicht ausreicht. In diesen Fällen müsste man abbremsen und hinter dem Fahrrad bleiben, bis eine gefahrlose Überholung möglich ist. Dass das innerorts in vielen Fällen nicht passiert und außerorts fast nie, konnte mit dem Experiment gezeigt werden. Im besten Fall wird die Geschwindigkeit so weit gedrosselt, dass subjektiv kein Gefühl der Bedrängnis oder Gefährdung entsteht.
Die im Binger Messprojekt ermittelten Ergebnisse decken sich mit den Erfahrungen, die Vielfahrende auf dem Fahrrad regelmäßig machen. Manche Menschen hält die subjektiv empfundene Gefährdung ganz vom Radfahren ab, andere weichen auf Gehwege aus, was zu anderen Konflikten und Gefährdungen führt. Nicht zuletzt aufgrund der Klimaschutzziele müssen Maßnahmen getroffen werden, um die Sicherheit von Radfahrenden auf der Fahrbahn zu erhöhen. Anderenfalls wird sich der Anteil des Radverkehrs im Straßenverkehr nicht steigern lassen.
Um die Sicherheit von Radfahrenden zu erhöhen, gibt es verschiedene Möglichkeiten, die je nach den örtlichen Gegebenheiten individuell zu erörtern sind:
Bau separater Fuß- und Radwege mit ausreichender Breite. Den aktuellen Normen zufolge beträgt die Mindestbreite jeweils 2,50 Meter. Das ist eine Idealvorstellung, die leider sehr aufwändig ist, entsprechend lange dauert und in den meisten Fällen an den vorhandenen Restriktionen im Hinblick auf Finanzen, Personal und verfügbaren Flächen scheitern wird.
Aufbringen von Fahrrad-Piktogrammen auf der Fahrbahn zur Erhöhung der Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit. Hierbei handelt es sich um eine kostengünstige und schnell umzusetzende Maßnahme, die insbesondere dort sinnvoll erscheint, wo kein Platz für Schutzstreifen ist, wo Einbahnstraßen für den Radverkehr freigegeben sind oder wo Übergänge von baulich getrennten Radwegen auf die Fahrbahn sind.
Vorhandene Radstreifensollten farblich hervorgehoben sein, um die Signalwirkung zu erhöhen.
Geschwindigkeitsreduktion bis hin zu verkehrsberuhigten Zonen. Auf einigen der untersuchten Straßen gilt bereits eine reduzierte Geschwindigkeit (30 km/h innerorts, 80 km/h außerorts), was jedoch als alleinige Maßnahme zumindest auf dem bestehenden Niveau nicht ausreicht, um den Radverkehr zu schützen. Für andere als problematisch identifizierte Strecken, wo es noch gar keine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt, wäre das dennoch eine schnell und kostengünstig umzusetzende Sofortmaßnahme zur Gefahrenminderung. Ein Blick nach Mainz zeigt, dass innerorts auch Tempo 20 eine Option ist.
Einbahnstraßenregelungen für Kraftfahrzeuge schaffen automatisch mehr Platz.
Ein Park- und Halteverbot am Fahrbahnrand schafft nicht nur eine Fahrzeugbreite Platz für den Radverkehr, sondern mehr, weil auch der notwendige Sicherheitsabstand zu den parkenden Fahrzeugen entfällt. Das wegfallende Risiko von Dooring-Unfällen durch unachtsames Öffnen von Autotüren ist ein zusätzlicher Gewinn an Sicherheit.
Der Verzicht auf Abbiegespuren kann Platz für Fahrradstreifen schaffen.
Ein Überholverbot voneinspurigen Fahrzeugen kann dort eingerichtet werden, wo aufgrund der örtlichen Gegebenheiten ein sicherer Überholvorgang nicht gewährleistet werden kann4. Die Regelung gibt es zum Beispiel in Rüdesheim, Mainz und in Frankfurt/Main. Die Wirksamkeit hängt natürlich davon ab, dass die Einhaltung kontrolliert wird.
Fahrbahnverschwenkungen durch abwechselnd rechts- und linksseitige Parkstände können verkehrsberuhigend wirken, haben sich jedoch zumindest in manchen Straßen als nicht ausreichend erwiesen, um ein zu knappes Überholen von Fahrrädern zu verhindern. Es kommt also auf weitere Faktoren an.
Verkehrskontrollen im Hinblick auf die Einhaltung der Abstandsregeln beim Überholen und entsprechende Belehrungen und Verwarnungen. Die Schwierigkeit besteht in der Erfassung des Überholabstands. Umso mehr Bedeutung kommt der allgemeinen Informations- und Aufklärungsarbeit über das Vorhandensein der Abstandsvorschriften und deren Relevanz zu.
Um die Wirkung ordnungsrechtlicher Maßnahmen im Hinblick auf ihre Vor- und Nachteile zu erproben, können entsprechende Verkehrsversuche in Erwägung gezogen werden.
(Artikel von Claudia Kunz)