Rheinland-Pfalz

Landesverband Rheinland-Pfalz

Geschichten aus dem Mainzer Tempo-Schilder-Wald

Der Mainzer Stadtrechtsausschuss hatte der Beschwerde eines Autofahrers gegen die Tempo-30-Anordnung auf den Durchgangsstraßen Kaiserstraße und Rheinstraße stattgegeben. Die Anordnung musste daher mit sofortiger Wirkung durch Verhüllen der Schilder ausgesetzt werden. Einen Monat später: Die Schilder werden wieder enthüllt, weil die Temporeduktion erforderlich ist, um die notwendige Minderung des Verkehrslärms zu erreichen.

Mit der juristisch auf der Grundlage des damaligen Rechtsstandes anscheinend korrekten Entscheidung des Stadtrechtsausschusses wurde eine Regelung von Mainz, die ein Zeichen für andere Kommunen setzte, vorläufig ausgehebelt.

Gerade Tempo 30 stellt ein zentrales Element für die Zivilisierung des städtischen Raums dar. Der soll wieder Raum nicht nur konzipiert für Autos sein, sondern zum Raum für die vielen Menschen werden, die - wie in Mainz der Fall - an den betreffenden Straßen wohnen oder sich dort zu Fuß und mit dem Rollator, dem Roller, dem Rad bewegen.

Und hier die Geschichten, die mit dem Thema verbunden sind:

 

1. Geschichte

Es war einmal

  • eine Messtechnik, die Stickstoffoxid-Emissionen von Automotoren, insbesondere von Dieselmotoren, festhielt;
  • die Medizin, die den Nachweis der Gesundheits- und Lebensgefahr durch Stickstoffoxide führte;
  • die EU, die aus Gesundheitsschutzgründen einen Grenzwert von 40 µg NO2 pro m³ festlegte;
  • die DUH (Deutsche Umwelthilfe), die deutschlandweit viele Kommunen verklagte oder ihnen Klagen androhte, damit sie wirksame Maßnahmen ergreifen, um den Grenzwert einzuhalten und somit Leben und Gesundheit der Bürger:innen zu schützen
  • die Stadt Mainz, die zur Vermeidung des durch die Klage der DUH sonst erzwingbaren Dieselfahrverbots als mildere Maßnahme auf den stark verkehrsbelasteten Hauptverkehrsstraßen die Geschwindigkeit auf 30 km/h begrenzte und dies auch mit Kontrollen tatsächlich durchsetzte;
  • die dadurch erfolgte Reduktion von NO2 in der Luft, so dass der Grenzwert auch ohne Fahrverbote knapp eingehalten werden konnte.
  • Zahlreiche Anwohner:innen der betreffenden Straßen und ihrer Nachbarstraßen freuten sich über bessere Luft, deutlich weniger Verkehrslärm und viel angenehmere Möglichkeiten, zu Fuß zur Wohnung zu gehen.
  • Auch die anliegenden Geschäfte und die dort angesiedelte Gastronomie profitierten von den besseren Zuwegen.
  • Der Radverkehr konnte endlich durchgängige Straßenzüge statt verwinkelte Umwege nutzen und oft halbwegs entspannt im Autoverkehr „mitschwimmen“.
  • Die Autofahrenden nahmen deutlich mehr Rücksicht auf den Radverkehr als vorher

2. Geschichte

Es war einmal

  • eine böse Verkehrsdezernentin,
  • die dem Autofahrer die schnelle Fahrt (Zwischenruf, von einem Stau zum nächsten) nicht gönnen wollte,
  • und überhaupt Autoverkehr vergraulen wollte
  • weswegen sie ein fragwürdiges Tempolimit anordnen ließ.
  • Ein Autofahrer erhob Einspruch gegen die Anordnung.
  • Ein neues Gutachten erklärte, dass das Tempolimit wahrscheinlich nicht erforderlich sei, um die NO2-Grenzen einzuhalten.
  • Daher hob jetzt der Rechtsausschuss der Stadt als Beschwerdeinstanz die Anordnung des Tempolimits auf.
  • Die Radfahrenden beginnen wieder sich zu sich fürchten und vermehrt zu flüchten, für die Anwohner:innen nimmt der Krach wieder zu.

3. Fortsetzung, eine öffentliche Diskussion

Es gab viele Ansätze zur Weiterführung der Erzählung, die wieder in die Richtung einer erneuten Temporeduktion wiesen:

  • Über 1100 Kommunen mit Stadtregierungen aus ganz verschiedenen demokratischen Parteien haben sich in den letzten Jahre zur Initiative „Lebenswerte Städte“ zusammengefunden, die erreichen will, dass die Kommunen sich für ein niedrigeres Tempolimit als die 50 km/h der StVO entscheiden können (https://lebenswerte-staedte.de/de/staedte-und-gemeinden-der-initiative)
  • Die Novelle der StVO von 2024 hat diese Initiative der Kommunen nicht in Gänze aufgenommen, aber enthält neue Möglichkeiten und Aufträge zur Einrichtung von Tempo 30 (https://rlp.vcd.org/startseite/detail/zur-novelle-der-stvo-vom-5-7-2024)
  • Ein wichtiger Gesichtspunkt dabei ist, dass auf Straßen, an denen Schulen liegen oder die wichtige Bestandteile von Schulwege sind, die Anordnung von Tempo 30 zum Regelfall wird. Entsprechend wurde dies auch in Mainz von Anliegerschulen artikuliert.
  • Da immer noch zahlreiche Todesfälle durch die Luftverschmutzung verursacht werden, hat die EU die Grenzwerte verschärft. Spätestens ab 2030 darf der maximale durchschnittliche Tageswert statt 40 µg NO2 pro m³ nur noch 20 µg betragen (https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/luftverschmutzung-eu-neue-grenzwerte-100.html, die Weltgesundheitsorganisation WHO fordert sogar einen Grenzwert von 10 µg). Wenn bis dahin nicht die Menschen in großer Zahl auf E-Autos umsteigen, wonach es derzeit nicht aussieht, muss der motorisierte Individualverkehr wie auch der Güterverkehr in Menge und Geschwindigkeit noch viel mehr als derzeit beschränkt werden.
  • Die Lärmminderung um 3 db an den Straßen durch die Tempominderung ist unbestritten.

Ein neues Kapitel: Lärmschutz anerkannt als Grund für eine Tempobeschränkung

Auf der Basis eines Lärmgutachtens und des Lärmaktionsplans hatte die Stadt beantragt, erneut ein Tempolimit zu erlassen. Die oberste Straßenverkehrsbehörde des Landes, der LBM, musste zu diesem Antrag Stellung beziehen. Bei einem korrekt begründeten Antrag hat der LBM allerdings keinen Entscheidungsspielraum. Jetzt wurde die Zustimmung erteilt. Die Tempo 30-Schilder sind wieder enthüllt.

Wenn sie nicht wieder zugedeckt werden, stehen sie noch heute.

Das ist aus Sicht des VCD, im Sinne der Mobilitätswende, aus den vielen genannten Gründen sehr zu begrüßen. Den gern beklagten Schilderwald würde es gar nicht geben, wenn das Tempo innerstädtisch grundsätzlich, wie eine alte Forderung des VCD lautet, auf 30 km/h beschränkt wird. Wo Menschen wohnen und an den Straßenseiten gehen oder stehen (z.B. an Ampeln oder gar zum Gespräch), dürfen Autos nicht die Ohren zulärmen und die Menschen als Straßenbeiwerk erscheinen lassen.

Und jeder Crash eines Autos, das mit 50 km/h fährt, mit einem Fußgänger oder einem Radfahrer, ist wie ein Sturz aus 10 m Höhe, die Wahrscheinlichkeit tödlicher Verletzungen ist sehr hoch. Die Vision Zero fordert, das die Wahrscheinlichkeit für solche Unfälle durch Maßnahmen aller Art praktisch auf Null reduziert wird. Last not least, ein weiteres wichtiges Argument für Tempo 30.

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